2.So.i.Jkr.-15.01.2023

FÜR ANDERE STERBEN

Warum lebe ich?… Diese Frage führt mich an den Kern meiner Berufung: daß ich mit dem brennenden Verlangen lebe, mit Gott verbunden und berufen zu sein, seine Liebe zu verkünden, während mir ihre Erfüllung noch versagt ist.
Die Begegnung mit dem Tod (infolge eines Unfalls) half mir, die Spannung besser zu verstehen, die zu dieser Berufung gehört. Es ist zweifellos eine Spannung, die nicht aufgelöst, sondern tief durchlebt werden muß, um fruchtbar zu werden. Was ich über das Sterben gelernt habe, ist, daß ich dazu berufen bin, für andere zu sterben.

Die ganz einfache Wahrheit besteht darin: Die Art und Weise, wie ich sterbe, betrifft viele Menschen. Wenn ich in großer Verärgerung und Verbitterung sterbe, lasse ich meine Familie und meine Freunde verwirrt, schuldbewußt, beschämt, mit lähmenden Gefühlen zurück.
Als ich den Tod auf mich zukommen sah, wurde mir plötzlich klar, wie sehr ich die Herzen derer, die Zurückbleiben würden, zu beeinflussen vermochte. Wenn ich ehrlich sagen könnte, daß ich dankbar für alles war, was mir im Leben widerfahren ist; wenn ich danach verlangte, zu vergeben und Vergebung zu erhalten, wenn mich die Hoffnung erfüllte, daß alle, die mich lieben, in Freude und Frieden weiterleben würden; wenn ich darauf vertraute, daß Jesus, der mich ruft, all den Menschen zur Seite stehen würde, die in irgendeiner Weise zu meinem Leben gehört haben – wenn ich all das tun könnte -, dann würde ich in der Stunde meines Todes eine weit größere geistige Freiheit zeigen, als ich in all den Jahren meines Lebens sichtbar machen konnte.
In meinem tiefsten Innern erkannte ich, daß Sterben der wichtigste Akt des Lebens ist. Es stellt einen vor die Wahl, andere in Schuld zu fesseln oder sie in Dankbarkeit zu befreien … Der Sterbende hat die einzigartige Chance, all denen die Freiheit zu gewähren, die er zurückläßt…
Mein inniger Wunsch, durch Jesus mit Gott vereint zu sein, entsprang keiner Verachtung menschlicher Beziehungen, sondern einer festen Überzeugung von der Wahrheit, daß in Christus zu sterben tatsächlich mein größtes Geschenk für andere sein kann.

So gesehen ist das Leben ein langer Pilgerweg der Vorbereitung: des eigenen Vorbereitens darauf, für andere zu sterben. Es ist eine Folge von kleinen Toden, bei denen von uns verlangt wird, die vielerlei Abhängigkeiten aufzugeben und beständig daraufhinzustreben, andere nicht mehr zu gebrauchen, sondern für sie dazusein. Die vielen Stufen der Entwicklung, die wir von der Kindheit bis zur Jugend, vom Heranwachsen zum Erwachsensein und vom Erwachsensein zum Alter durchlaufen, geben uns immer neue Gelegenheiten, zu wählen, sich entweder für uns oder für andere zu entscheiden.                                                          Henri J. M. Nouwen